Für den Weltkrebstag kommt der Post viel zu spät, weil ich auch sehr lange mit ihm schwanger gegangen bin, der war aber einer von mehreren Anlässen ihn zu schreiben. Ein anderer war eine Fortbildung integrative Onkologie mit dem Generalthema Prävention/Survivorship, an der ich kürzlich teilgenommen habe, und bei der das Thema im Titel eine sich überall ein wenig durchziehende Rolle spielte und auch explizit Thema eines Vortrages war. Außerdem habe ich auch hier früher schon einen Teilaspekt aufgegriffen, bereits in einem der ersten Posts. Letztlich bin ich mit dem Beitrag nicht wirklich ganz im reinen, aber irgendwann muss er mal veröffentlicht werden, sonst wird das nichts mehr, und die bis hierher investierte Zeit war vergebens.
Was heißt Selbstoptimierung? Ich will in diesem Fall nur solche Dinge darunter fassen, die im weitesten Sinne einen medizinischen Bezug haben, obwohl man darunter noch deutlich mehr fassen kann und das in anderen Zusammenhängen auch tut. Selbstoptimierung heißt für mich, sich einem nach dem state of the art der wissenschatlichen Erkenntnis optimalen Bild zu formen, was Dinge betrifft, die irgendeinen Einfluss auf meine gesundheitlichen Umstände haben könnten. Das betrifft die Optimierung des Lebensstils, die Wahrnehmung als vermeintlich sinnvoll erkannter diagnostischer Maßnahmen, das erkennen von Risiken aller Art und eine vermeintlich sinnvolle Reaktion darauf, sodass man am Ende dem Ideal eines mit möglichst geringen gesundheitlichen Risiken behafteten und auf die unvermeidlichen Risiken möglichst optimal eingestellten und vorbereiteten, möglichst lange bei guter Gesundheit möglichst leistungsfähigen Menschen entspricht. Viele der Möglichkeiten, die sich heute schon dazu bieten und sich in Zukunft noch in viel größerem Maße bieten werden, erscheinen auf den ersten und manche auch auf den zweiten Blick sinnvoll. Die Frage ist aber, wie weit will ich gehen, mich anpassen, um diesem Ideal nahezukommen, und darf man diese Bemühungen auch vielleicht von mir einfordern, mich gar mit Sanktionen belegen, wenn ich diesen Forderungen nicht nachkomme oder benachteiligen, wenn ich dem Idealbild in bestimmten Aspekten nicht entsprechen kann oder auch nur nicht will. Hier soll es nicht ausschließlich aber hauptsächlich um Aspekte rund um das Thema Krebs gehen, was allein schon fast den Rahmen eines Blogposts sprengt.
Es gibt mittlerweile eine große Fülle von Faktoren, viele davon lebensstilbedingt, die das Risiko an bestimmten Erkrankungen zu erkranken, das ich an dieser Stelle mal auf hauptsächlich Krebserkrankungen reduzieren will, beeinflussen. Auch das Rezidivrisiko wird davon beeinflusst, ebenso wie die Lebensqualität von „survivors“, worunter ich hier gern die Menschen verstehen möchte, die nach oder mit einer Krebsdiganose leben (müssen).
Die größten und am besten belegten Lebenstilfaktoren, die das Krebsrisiko beeinflussen sind Rauchen, Alkohol, Übergewicht und Bewegungsmangel. Hinzu kommen einige Ernährungsfaktoren, von denen die meisten nur wahrscheinlich einen Einfluss haben und nur mäßig gut und meist nur für bestimmte Krebsentitäten belegt sind. Für andere Erkrankungen und Beschwerden gilt ähnliches, in einzelnen Bereichen sind Ernährungsfaktoren auch besser belegt.
So vernünftig es ist lebensstilbedingte Risikofaktoren nach Möglichkeit zu minimieren, darf das aber eben nicht zum „victim blaming“ führen, dazu dass Betroffenen eine Schuld an der eigenen Erkrankung zugewiesen wird. Denn diese „Schuld“ gibt es ja gar nicht. Niemand ist durch noch so viel Selbstoptimierung sicher davor gefeit an Krebs zu erkranken, genausowenig wie jemand der alle gute Ratschläge außer Acht lässt und sämtliche lebensstilbedingten Risikofaktoren auf sich vereint, sicher erkranken wird. Es dreht sich immer ausschließlich um Erhöhung oder Erniedrigung von Wahrscheinlichkeiten.
Leider wird aber bereits heute genau diese Schuldzuweisung in großem Maßstab betrieben, unbedacht oder auch gezielt. Haben nicht schon die meisten mal bei sich gedacht „Kein Wunder, dass der jetzt an Lungenkrebs stirbt, so wie der gequalmt hat“? Manche werden es auch im Bekanntenkreis sogar ausgesprochen und sich nichts weiter dabei gedacht haben. Aber das war eben genau so eine Schuldzuweisung, und die geschieht, wie ich im oben verlinkten Post damals schon dargelegt habe, oft auch aus Selbstschutz, um sich selbst zu versichern, dass einem nichts derartiges passieren kann, weil man ja eben diesem Risiko aus dem Wege geht.
Auch wenn ich selbst seit sehr langer Zeit überzeugter Nichtraucher bin, und so sehr mir der Nichraucherschutz am Herzen liegt, finde ich es schlicht unredlich und falsch einem an Lungenkrebs oder auch COPD erkrankten Raucher die „Schuld“ für seine Erkrankung zu geben. Das gilt für alle anderen lebensstilbezogenen Risiken genauso und ohne Einschränkung.
Wahrscheinlichkeiten werden beeinflusst, positiv wie negativ. Und genau da liegt das grundlegende Missverständnis, das in großen Teilen der Bevölkerung aber auch bei manchem Arzt existiert: Wenn durch die Presse geht, dass x% sagen wir 15% (wobei diese Zahl von willkürlich angesetzt ist und nicht unbedingt der Realität entspricht) aller Krebserkrankungen auf Rauchen zurückzuführen sind, dann ist das zunächst einfach einmal Blödsinn. Richtiger ist die Aussage, dass es 15% weniger Krebserkrankungen geben könnte, wenn alle Menschen aufhörten zu rauchen oder nicht damit anfingen, es also auch keine Passivraucher gäbe. Was ist nun der Unterschied? Im ersten Fall kann man die Aussage so interpretieren als hätten von 100 Krebserkrankungen 15 konkrete Fälle vermieden werden können, wenn die Betreffenden nicht geraucht hätten. Das trifft aber nicht zu. Keiner der vermiedenen oder in Zukunft vermeidbaren Fälle kann konkret benannt werden. Keinem einzigen der 100 Krebspatienten kann konkret die Ursache Rauchen an seiner Erkrankug zugeschrieben werden. Hätten alle 100 nicht geraucht, wäre irgendwelchen 15 von ihnen die Erkrankung erspart geblieben, welchen von ihnen genau, kann niemand sagen. Das ist jedem Statistiker vollkommen klar. So wie es oft genug in der Öffentlichkeit dargestellt wird, ist es für viele Menschen aber eben nicht so klar. Es sollte jedoch eigentlich so kommuniziert werden, dass es jedem klar wird.
Ein anderes oft auftretendes Missverständnis bezüglich Wahrscheinlichkeiten ist die Verwechslung von absoluten mit relativen Wahrscheinlichkeiten, sowie von Prozenten mit Prozentpunkten. Wenn es heißt ein bestimmtes Verhalten erhöhe die Wahrscheinlichkeit eine bestimmte Krebserkrankung zu bekommen um 30% (was schon viel ist), so sagt diese Zahl zunächst mal wenig aus. Es handelt sich um eine relative Wahrscheinlichkeit, zu deren Beurteilung man die Bezugsgröße kennen muss. Handelt es sich um eine seltene Kreberkrankung, für die z.B. das absolute Lebenszeitrisiko zu erkranken bei 0,1% der Gesamtbevölkerung liegt, dann beträgt das Risiko für den, der das kritischen Verhalten an den Tag legt, im Vergleich zu dem, der es meidet, 0,13% statt 0,1%, sein absolutes Risiko hat also um 0,03 Prozentpunkte zugenommen. Handelt es sich um eine häufige Erkrankung, die z.B. 8% der Bevölkerung im Laufe ihres Lebens betrifft, was auf die häufigsten Kreberkrankungen ungefähr zutrifft, dann sind die Zahlen 10,4% für denjenigen mit riskantem und 8% für den mit dem nichtriskanten Lebenswandel. Das absolute Risiko hat also um 2,4 Prozentpunkte, also das 80 fache des Wertes bei der seltenen Erkrankung zugenommen, was, wie jeder zugeben wird, ein ganz erheblicher Unterschied ist.
Diese Fallen bei der Interpretation von Aussagen zu lebenstilbedingten Risikofaktoren sollte man kennen, wenn man für sich selbst darüber nachdenkt, ob man etwas an seinen eigenen Risikoprofil tun will, indem man etwas ändert. Denn eine informierte Entscheidung sollte das sein und eine aus eigenen Stücken, die aus Verständnis und Aufgeklärtheit resultiert und nicht aus Gruppenzwang oder noch härteren Zwängen, wie z.B. selektiven Krankenkassenbeiträgen für gesetzlich Versicherte.
Ebenfalls in die Kategorie Selbstoptimierung fallen die mittlerweile gottseidank überwiegend nicht mehr so bezeichneten Krebs“vorsorge“untersuchungen, obwohl man da an Selbstoptimierung zunächst nicht unbedingt denken würde. Außer einigen wenigen mit großen Einschränkungen handelt es sich nämlich nicht um Vorsorge, also Verhinderung einer Krebserkrankung sondern um Früherkennung einer bereits bestehenden, mit der Option diese ggf. besser und erfolgreicher behandeln zu können. Auch hier gilt es sich über Zahlenfallen im klaren zu sein. Dabei gilt zunächst einmal ähnliches wie das oben gesagte, aber darübehinaus noch weiteres, das im Rahmen diese Blogposts sicher nicht erschöpfend behandelt werden kann. Wen es interessiert, der informiere sich über zum Beispiel über die Themen Selektivität, Sensitivität, false positives, false negatives, positive predictive value (besonders diesen).
Jahre- bzw. jahrzehntelang wurden diese Untersuchungen quasi als Allheilmittel im Kampf gegen den Krebs beworben, was sich mittlerweile gottseidank geändert hat oder dabei ist sich zu ändern zugunsten einer differenzierteren Betrachtungsweise. Damit keine Missverständnisse entstehen: Ich halte vieles davon für ausgesprochen sinnvoll und in manchen Situatioen und für manche Menschen für überaus empfehlenswert, aber auch hier ist eben eine informierte Entscheidung notwenig, und der teilweise erhebliche öffentliche Gruppenzwang, der über viele Jahre wenn auch weitgehend mit eher mäßigem „Erfolg“ ausgeübt wurde, ist in jedem Fall abzulehnen.
Jahrzehntelang wurde mit den sagenhaft höheren 5 Jahresüberlebensraten geworben, die bei einer möglichst frühen Diagnose im Gegensatz zu später Diagnosestellung herauskamen. Dabei wurde jedoch einiges übersehen, zum Beispiel die Gesamtlebenserwartung. Betrachtet man diese, sind Menschen, die regelmäßig an Screeningprogrammen teilnehmen nur noch sehr bedingt gegenüber denen im Vorteil, die dies nicht tun. Warum? Weil eine gute Ausssicht die ersten 5 oder auch 10 jahre nach Diagnose zu überleben eben nicht unbedingt mit einem längeren Leben als solchen verbunden sein muss. Wenn bei einer Frau eine Brustkrebsdiagnose im Alter von sagen wir 50 Jahren nach Früherkennung gestellt und erfolgreich behandelt wird, und sie dann noch weitere 25 Jahre lebt, bevor sie vielleicht von einem Rezidiv oder einer anderen Erkrankung dahingerafft wird, dann hat sie keinen Vorteil gegenüber einer Frau, die erst mit 70 diagnostiziert wird und dann nach 5 Jahren an ihrer spät erkannten Krebserkrankung stirbt. Beide werden 75, die früh Erkannte hat aber 20 jahre länger mit einer Krebsdiagnose gelebt, die sie vielleicht eher in einer noch beruflich aktiveren Lebenphase getroffen hat, in der sie in ihrer Lebensplanung mehr beeinträchtigt wurde als die, die erst im Rentenalter diagnostiziert wurde. Nicht jeder steckt das Leben mit einer Krebsdiagnose ohne weiteres gut weg. Trotzdem hat die frühdiagnostizeirte Frau natürlich die Statistik für das krankheitsbedingte Überleben nach Diagnose erheblich verbessert. Das Beispiel mag etwas konstruiert wirken kommt aber durchaus vor, und es geht auch um allgemein statistische Vor- und Nachteile. Zusätzlich gibt es natürlich auch auf eine richtig postive Früherkennungsdiagnose eine erheblich größere Anzahl Fehlalarme, die teilweise invasive weitere Untersuchungen und erhebliche psychische Belastungen mit sich bringen sowie echt falsch positive Diagnosen, die eine agressive Therapie nach sich ziehen, die sich im nachhinein als völlig überflüssig herausstellt und natürlich auch falschnegative Befunde, bei denen eine vorliegende Erkrankung übersehen wurde und sich die Untersuchte in falscher Sicheheit gewogen hat, die es eben leider nicht gibt, was auch lange Zeit verschwiegen wurde. Das gilt in ähnlicher Weise für praktisch alle Früherkennungsuntersuchungen. Eine bösartige Erkrankung verhindern können nur wenige dieser Untersuchungen, unter anderem die Darmspiegleung, und was den Darmkebs betrifft nur diese, sowie das Hautkrebsscreening und ein oder zwei andere, bei denen Krebsvorstufen erkannt und beseitigt werden können, bevor sie bösartig werden. Bei allen Früherkennungsuntersuchungen gibt es falsch negative und falsch positive Befunde, völlige Sicherheit in die eine oder andere Richtung kann keine bieten.
Wenn man das alles bedacht hat, sollte man schließlich noch wissen, welche ganz konkreten Folgen z.B. hinsichtlich ggf. notwendiger weiterer Untersuchungen und wiederum deren Konsequenzen ein bestimmter Befund einer Früherkennungsuntersuchung für einen haben würde, und ob man sich in der Lage sieht, mit diesen Folgen umzugehen. Nicht immer ist das eine eindeutige Geschichte, und es gäbe verschiedene Optionen, bei denen man sich vorzugsweise vorher Gedanken machen sollte, welche in welcher Situation für einen infrage kämen.
All das und einiges mehr zu erklären und den Menschen Zeit zu geben eine informierte Entscheidung zu treffen, wäre notwendig für alle Früherkennungsuntersuchungen. Das Informationsmaterial wird allmählich bereits angepasst, bei der Aufklärung durch die Ärzteschaft liegt jedoch noch einiges im Argen, oft ist es eher ein Drängen hin zur Teilnahme als eine wirkliche Aufklärung.
Noch folgenreicher und in mancher Hinsicht problematischer sind die inzwischen sehr umfangreichen und immer umfangreicher werdenden Möglichkeiten genetischer Untersuchungen. Es gibt bereits jetzt Hunderte wenn nicht Tausende identifizierte Genorte, bei denen bestimmte Ausprägungen mit bestimmten Risiken für bestimmte Erkrankungen oder Beeinträchtigungen verbunden sind. Etliche von denen sind mit ganz erheblichen und sehr schwerwiegenden Risiken vor allem für Erbkrankheiten aber auch z.B. für Krebserkrankungen verbunden, andere beeinflussen nur wenig das Risiko für andere Erkrankungen wie Herz-Kreislauf-Probleme, Schlaganfall oder Diabetes.
Die Hochrisikogene für Brust- und Eierstockkrebs BRCA1 und 2 sind seit vielen Jahren bekannt. Die betreffenden Mutationen haben insofern große Bedeutung als sie das Risiko für beide Krebsformen wirklich dramatisch, teilweise auf das 10-fache erhöhen. Insbesondere in Verbindung mit dem Brustkrebs gibt es inzwischen eine gorße Anzahl weiterer Mutationen die das Risiko zu erkranken mehr oder weniger stark beeinflussen, teilweise in Kombination synergistisch wirken oft ziemlich selten sind. Außer BRCA ist ihnen gemeinsam, dass wenig bekannt darüber ist, in welchem Ausmaß genau sie das Risiko beeinflussen. Von sehr vielen anderen Mutationen weiß man viel weniger genau was sie konkret für Auswirkungen haben, außer dass sie eben einen Einfluss haben. Die Anlagen für die erbliche Form des medullären Schilddrüsenkrebs sind ebenfalls lange bekannt und haben im Falle einer entsprechenden Mutation auch dramatische Folgen für die Betroffenen. Praktisch alle Träger der MEN2A Mutation entwickeln meist schon im Kindesalter ein medulläres Schilddrüsenkarzinom dessen Prognose nur dann nicht tödlich ist, wenn die Schilddrüse vor der Entwicklung von Metastasen entfernt werden kann, bei MEN2B wächst das Karzinom noch aggresssiver und früher.
Wenn es aus der Familienanamnese einen Hinweis auf ein erhöhtes Risiko für solche Hochrisikomutationen gibt, ist eine genetische Untersuchung natürlich höchst sinnvoll, da die ansonsten meist sehr schlechte Prognose durch frühes Eingreifen bw. enge Untersuchungsintervalle dramatisch verbessert werden kann. Trotzdem gilt natürlich selbst dabei: Es besteht prinzipiell ein Recht auf Nichtwissen, was bei den MEN2 Mutationen natürlich eher theoretisch ist, da eine Untersuchung für ein wirksamens Eingreifen immer im Kindesalter stattfinden muss und da eben die Eltern zu entscheiden haben.
Bei den Brustkrebsrisikomutationen ist dies anders. Man sollte sich zumindest darüber im klaren sein, wie man mit den möglichen Ergebnissen umzugehen gedenkt, insbesondere wenn sich herausstellt, dass man betroffen ist. Die Möglichkeiten reichen vom Weitermachen wie bisher und ggf. keine weiteren auch keine Früherkennunguntersuchungen bis zur prophylaktischen Brustamputation und Eierstockentfernung mit allen damit verbundenen Folgen. Für die Brustkrebsrisikogenetik sind die entsprechenden Beratungen in kompetenten Zentren inziwschen sehr gut und detailiert, niemand wird gedrängt, alle Optionen werden besprochen. Trotzdem kommt es bei niedergelassenen Ärzten immer noch dazu, dass Patientinnen in die ein oder andere Richtung gedrängt werden.
Eine sich aus der Gendiagnostik ergebende weitere Problematik wird jedoch oft noch außer Acht gelassen: Genetik wird auch vererbt, und damit sind von einem möglichen Ergebnis meistens auch andere als die unmittelbar Betroffenen berührt. Theoretisch ist jeder Herr über seine Gesundheitsdaten, wozu sonst gäbe es eine ärztliche Schweigepflicht. Eine Ausnahme sind meldepflichtige Krankheiten, bei denen es sich meist aber um Infektionskrankheiten handelt. Wie ist es aber mit der Kenntnis um genetische Belastungen? Besteht da nicht eine moralische Verpflichtung insbesondere Nachkommen oder Geschwister zu informieren, und bürdet man denen im Falle der Information nicth ebenfalls eine vielleicht ungewollte „Verpflichtung“ auf, sich untersuchen zu lassen. macht man sich schuldig, wenn die Verwandtschaft im Falle der Nichtinformation ernsthaft erkrankt? Was ist mit zerrütteten Familienverhältnissen? Das sind Fragen, über die man sich im Vorfeld der eigenen Untersuchung auch klar sein sollte, und in der Beziehung steht die Aufklärung erst am Anfang.
Während für dieses letzte Problem die Verhältnisse bzgl. solcher sehr schwerwiegenden Erkrankungen vielleicht noch einigermaßen klar sein mögen, in den allermeisten Fällen wird man sich sicher dafür entscheiden evtl. Mitbetroffene zu informieren, ist das bei anderen Risiken schon nicht mehr so klar. Wer das nötige Kleingeld hat, ca. 8000$ kann sein Erbgut auf praktisch alle Mutationen untersuchen lassen die auch nur irgendwie verdächtig sind mit irgendeinem gesundheitsbezognenen Risiko behaftet zu sein, auch wenn dies für vielen der untersuchten Genloci noch höchst fragwürdig ist. Man bekommt eine lange Liste mit allen möglichen potentiellen Risiken zurück. Theoretisch könnte man sich nun entsprechend selbst optimieren, indem man zumindest alle durch andere Faktoren beeinflussbaren Risiken versucht abzumildern. Was bedeutet das „Wissen“ für die eigene Lebensqualität? Ein ggf. erhöhtes Risiko für einen Herzinfarkt bedeutet ja lange noch nicht das sichere Eintreten desselben. Das jahrzehntelange Wissen darum kann aber gerade infolge des damit verbundenen Stresses das Risiko zusätzlich erhöhen, sodass eventuelle Gegenmaßnahmen im Sinne einer Anpassung des Lebensstils ins Leere laufen. Die Beratung bei solchen Angeboten lässt meist sehr viel zu wünschen übrig. Trotzdem gibt es durchaus Tendenzen, Menschen zu solchen Untersuchungen zu drängen oder sie gar zu fordern. Ebenfalls gibt es Tendenzen zu fordern, dass man sich am Ergebnis orientiert entsprechend optimiert, was z.B. den Lebensstil betrifft und im Falle der Verweigerung auch mit Sanktionen zu drohen. Weltweit sind Arbeitgeber daran interessiert soviel wie möglich über die gesundheitlichen Daten von Bewerbern herauszufinden. Noch sind die Möglichkeiten dafür sehr beschränkt, bei uns schiebt das Gendiagnostikgesetz dem einen Riegel vor. In den USA wäre entsprechendes zumindest denkbar und von mancher Seite sicher angestrebt.
Bei diesen Tendenzen ggf, auch Druck oder Zwang auszuüben, um Menschen zur eigenen Optimierung zu bringen, werden auch immer wieder ökonomische Gesichtspunkte ins Feld geführt. Ist es nicht ungerecht, wenn gesundheitsbewusste Gesundesser und Sporttreibende für die Fehler und Gleichgültigkeit der Couch Potatoes mitbezahlen sollen? Sollte nicht, wer sich in Gefahr begibt, vielleicht besser darin umkommen? Das mag sich sehr übertrieben lesen, aber ich habe ähnlich extreme Ansichten bereits vernommen. Im Hinblick auf ein anderes Reizthema, Organspende, wird ja teilweise ähnlich argumentiert. Wer nicht bereit ist zu spenden soll auch bei Bedarf kein Organ erhalten, Alkoholiker sollen keine Lebern erhalten, weil sie selbst schuld sind etc. Das wird in Ansätzen auch bereits so gehandhabt, indem alkoholbedingt auf eine Spenderleber Wartende eine bestimmte Zeit trocken sein müssen, um überhaupt für eine Transplantation infrage zu kommen. Was aber ist, wenn sie in eben dieser Zeit am Leberversagen sterben? Pech gehabt, selbst schuld. Ich bin obwohl selbst Organspender damit ausdrücklich nicht einverstanden. Mir wäre lieber, wenn jeder der eines meiner Organe, aus welchen Gründen auch immer bedarf ohne Ansehen der Person es auch erhalten würde. Sollen die Bedingungen in dieser Richtung weiter verschärft werden, etwa das auf den gesunden Lebenswandel abgestellt würde o.ä. müsste ich meine Spendebereitschaft ernsthaft überdenken. Damit dürfte auch einigermaßen klar sein, was ich in Sachen Druck oder Zwang hinsichtlich der Beeinflussung gesundheitlicher Risiken durch Selbstoptimierung halte: Nichts, ich bin absolut dagegen, auch gegen jeglichen gesellschaflichen Zwang, jedenfalls solange nicht anderes als die eigene Gesundheit und Unversehrtheit betroffen ist. Zu groß erscheint mir die Gefahr einer Tendenz zur Legitimation des victim blaming Vorschub zu leisten, und Schuldzuweisungen werden uns auf dem Weg zu einer insgesamt gesünderen und bewussteren Lebensführung nicht weiterhelfen. Aufklärung gerne aber eben positiv und nicht in Form der Erzeugung von schelchtem Gewissen im Stile von: 60gr/Woche mehr verarbeitetes Fleisch oder Wurst steigern das Darmkrebsrisiko um xx%.
Was eine eventuelle Informationspflicht hinsichtlich genetischer Risiken der Verwandtschaft bei Hochrisikogenen für im Zweifel tödliche Erkrankungen betrifft, könnte ich mir Regelungen vorstellen, habe aber auch dabei trotzdem Kopfschmerzen, weil ja eigentlich auch die potentiell Mitbetroffenen ein Recht auf Nichtwissen haben. Im Prinzip müsste man diese also eigentlich vor der eigenen Untersuchung fragen, ob sie bei einem positiven Ergebnis oder überhaupt informiert werden wollen, wenn sie betroffen sein könnten. Erfolgt eine solche Frage nachdem bereits eine Untersuchung stattgefunden hat und ein Ergebnis vorliegt, ist ja bereits mit der Frage eine große Wahrscheinlichkeit verbunden, dass eine Beeinträchtigung vorliegt.
Es ist lang geworden, und die Diagnostik hat gefühlt zu großen Raum eingenommen, dabei ist das Thema für mich überhaupt noch nicht erschöpfend behandelt. Festzuhalten bleibt für mich: Es ist inzwischen und noch mehr in Zukunft schier unmöglich alles, was irgend möglich ist und Einfluss auf medizinische Zusammenhänge/RisikenZustände hat, zu optimieren ohne dabei praktisch auf das „Leben selbst“ zu verzichten. Man muss sich beschränken, man darf sogar verweigern, und zwar ohne Einschränkung. Und genau das muss gesellschaftlich akzeptiert werden bzw. bleiben. Es muss vor allem möglich sein, bewusst auf einzelne Selbstoptimierungen zu verzichten ohne dabei Diskriminierung oder negativen Sanktionen ausgesetzt zu sein. Anders macht es keinen Sinn. Das heißt nicht, dass ich jede Form gesundheitsbewussten Verhaltens oder der Risikominimierung ablehne, im Gegenteil, ich finde vieles davon höchst sinnvoll und erstrebenswert. Nur Zwang und auch subtiler Zwang soll und darf dabei nicht ausgeübt werden. Leider zeigen etliche Entwicklungen gerade in diese Richtung, und das halte ich für grundfalsch.
Macht nachdenklich. Danke fürs Aufzeigen so vieler Aspekte des Themas.
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Lebenswahrnehmung und die daraus folgende Lebenslust empfinde ich persönlich als Ratgeber.
Deine Ausführungen bestärken mich darin.
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