Jetzt gehöre ich … ja wozu eigentlich?

13 Sept

… glaube keiner Statistik, die Du nicht selbst gefälscht hast.

Mit den Statistiken ist das eine vertrackte Sache. Es gibt merkwürdige Aussagen, manchmal versteht man sie einfach nicht, und manchmal kann aus einer sehr kleinen Zahl ein sehr großer Effekt werden, der dann aber vielleicht doch wieder nicht ganz so toll ist.

Nun muss man den ersten Satz oben nicht unbedingt wörtlich nehmen, aber es macht schon Sinn, Statisiken aufmerksam und vor allem mehrfach zu lesen. Wenn einem jemand eine Statistik nahebringen will, ist es auch immer gut, sich zu fragen, welche Interessen er vertritt.

Vor ca. 1,5 Jahren war die Welt noch in Ordnung und die Wahrscheinlichkeit im Laufe meines Lebens an Schilddrüsenkrebs zu versterben, lag nach der neuesten Statistik bei 1:1600 also unter 0,1% und etwa halb so hoch wie das der durchschnittlichen Frau.

Mittlerweile hat man mir 3 Schilddrüsentumore entfernt, hat die möglicherweise verbleibenen Reste mit einer mehr als saftigen Dosis radioaktiven Jods zerstört, und danach hat sich mein Risiko an der gleichen Krankheit zu sterben vervielfacht. Meine offiziellen statistischen Chancen, die nächsten 5 Jahre zu überleben liegen als Mann bei 77-87% und sind damit weniger als halb so groß wie die eine Frau in der gleichen Situation.

Wie bitte? Die Therapie hat mein Risiko an Schilddrüsenkrebs zu sterben massiv erhöht? Ich will sofort meine kaputte Schilddrüse wiederhaben!

Natürlich stimmt das nicht. Selbstverständlich war mein tatsächliches Risiko auch schon vor der Therapie so hoch. Wenn man das Karzinom nicht entdeckt hätte vermutlich noch viel höher. Nur hatte man es eben vor 1,5 Jahren noch nicht entdeckt und daher gehörte ich statistisch bzgl. dieses Risikos noch zu einer anderen Grundgesamtheit, nämlich der aller Männer zwischen 50 und 60, die etliche Millionen umfassen dürfte. Jetzt gehöre ich zu den ungefähr 1650 Männern, die im Jahr 2009 an Schilddrüsenkrebs erkrankten von denen nach dem gegenwärtigen Stand der Dinge ca. 15% innerhalb der nächsten 5 Jahre daran sterben werden. Wohlgemerkt nach dem jetzigen Stand. Ob diese Zahlen tatsächlich zutreffen werden, wird unter anderem auch davon abhängen, wie sich die Behandlungsmethoden entwickeln.

Was sagt das nun über mein persönliches Risiko aus? Immer noch relativ wenig. Denn diese Zahlen sind nur für die Gesamtheit aller Schilddrüsenkrebsfälle maßgeblich. Meine Form, das papilläre Karzinom, hat die beste Prognose von allen, während das mit 10% der Fälle recht seltene anaplastische Karzinom eine extrem schlechte Prognose hat und in den allermeisten Fällen recht kurzfristig zum Tode führt. Allerdings bin ich mit einem pT3b gesegnet, was wiederum innerhalb der papillären Karzinome eine etwas schlechtere Prognose als der Durchschnitt hat, wohingegen die Tatsache, dass keine Lymphknoten befallen sind und (zur Zeit noch) keine Metastasen zu finden sind, die Aussichten wieder etwas verbessern. Alles in allem wird das Risiko an der Krankheit innerhalb der nächsten 5 Jahre zu versterben wohl irgendwo zwischen 5 und 10% liegen, vielleicht sogar noch etwas weniger. Damit kann man leben.

Ärzte lesen übrigens scheinbar auch nicht immer Statistiken, oder zumindest nicht richtig. Außer mir hat wahrscheinlich schon manch anderer den Spruch gehört: „Also wenn ICH mir einen Krebs aussuchen dürfte, dann Ihren“ So sprach auch ein Oberarzt aus dem Krankenhaus, wo ich erstbehandelt wurde.

Schaun mer mal:
Durchschnittliche 5-Jahresüberlebensrate Schilddrüsenkrebs Männer in Deutschland:  77-87%
Durchschnittliche 5-Jahresüberlebensrate Prostatakrebs Männer (was sonst) in Deutschland:  83-94%

Ob er sich den Schilddrüsenkrebs deshalb ausgesucht hätte, weil der andere in der Nähe seiner edleren Teile läge? Oder kannte er die Zahlen dann doch nicht wirklich.

Ein anderer Aspekt ist das Spiel mit Zahlen:
Wenn durch ein Mammographiescreening statt 4 von 1000 nur 3 von 1000 Frauen an Brustkrebs sterben ist das aus der Sicht der 996 Frauen, die nichts davon gehabt haben, verschwindend wenig, aus der Sicht der 4. Frau, die nicht gestorben ist, sieht es anders aus. Wenn man die Mammographie promoten will, sagt man natürlich lieber „die Sterblichkeit wurde um 25% vermindert“ als „die absolute Sterblichkeit sank um 0,1%“
Aus der Sicht der 300.000 Frauen, die geschätzt jährlich von Fehlalarmen nach Mammographien betroffen sind, sieht es nochmal anders aus.

Womit ich nichts gegen Mammographie gesagt haben möchte. Ich wünschte, eine mir relativ nahestehende Person könnte sich entschließen das Risiko eines männlichen Brustkrebsfalles in ihrer unmittelbaren Blutsverwandtschaft etwas ernster zu nehmen. Aber es gibt eben auch ein Recht auf Nichtwissen, das man respektieren muss.

Der langen Rede kurzer Sinn: Wenn man sich schon mit solchen Statistiken beschäftigt, sollte man peinlichst genau darauf achten, was davon für einen selbst überhaupt relevant sein könnte. Welche Schlüsse man dann aus den Zahlen zieht, sollte man auch gut überlegen, am Besten keine Kurzschlüsse.

3 Antworten to “Jetzt gehöre ich … ja wozu eigentlich?”

  1. Druffgugger 15. September 2010 um 10:57 #

    Wo gehört drkall dazu?
    Auf alle Fälle aufgrund unserer Bekanntschaft zu meiner Favoritenliste Blogs betreffend.
    Und der richtige drkall wird in die andere Favoriten nahe beim Herzen gepackt.
    Statistik ist nicht umsonst, wenn ich da jetzt nicht total danebenliege, ein Studienfach, oder?
    Und um das strapazierte Zitat hervorzukramen, welchess winston Churchill zugeschrieben wird: „Traue keiner Statistik außer du hast sie selbst gefälscht.“
    Wenigstens kannst du, drkall, die ganzen Statistiken so lesen und in Worte kleiden dass es verständlich wird.
    Druffgugger (und gugg du mal auf meine mail-Adresse)

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  2. Sue 27. Juni 2011 um 02:33 #

    Hallöchen,
    haben uns bei Chaoskatze gelesen und jetzt mußte ich doch mal nachlesen, was bei Dir so angesagt ist 😉
    Ich hatte bei der Erstdiagnose, statistisch gesehen, sehr gute Aussichten. Tja, die Statistiken hatten Unrecht und ich bin voll von Metastasen.
    Aber noch läuft das Leben einigermassen rund und ich lebe meinen Lebensrest.
    Gruss sue

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    • drkall 27. Juni 2011 um 10:50 #

      Wie schnell sich eine gute Prognose ins Gegenteil verkehren kann, habe ich an einem Bekannten aus der Selbsthilfe gesehen, der nur 2 Monate vor mir diagnostiziert wurde und zu dem Zeitpunkt zunächst eine ähnlich gute Prognose hatte wie ich. Das war vor knapp 2 Jahren. Inzwischen versucht er im Wesentlichen nur noch möglichst lange am Leben zu bleiben.

      Ich war gelegentlich auch mal mitlesenderweise auf Deinem alten Blog 😉

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